Kaiserin, Altnazi und Frieda Kahlos Papa
Wie bereits in ihrem Buch „Gelbe Schmetterlinge und die Herren Diktatoren“ (siehe ila 434) beklagt die Literaturvermittlerin Michi Strausfeld auch in ihrem neuen Werk „Die Kaiserin von Galapagos. Deutsche Abenteuer in Lateinamerika“ ein hierzulande schwindendes Interesse seitens Politik und Publikum für Lateinamerika. Die Literatur, die sie seit den 1960er-Jahren in Lateinamerika kennen- und schätzen lernte, habe ihr dabei geholfen, Geschichte und Gegenwart des Kontinents besser zu verstehen. Seit der Jahrtausendwende sei die Leidenschaft verflogen, die man früher dem Kontinent entgegengebracht habe, etwa nach dem Putsch gegen Allende oder der Revolution in Nicaragua. Geschichte sei auch der literarische Boom der 1970er- und 80er-Jahre. Heute, so Strausfeld, wüssten die Leser*innen in Deutschland weniger über Länder, Leute und Literaturen der Region als vor 40 Jahren. Sie fragt nach den Gründen und danach, ob dies in der Vergangenheit bereits schon mal so gewesen sei.
Ihre Recherchen münden in die Darstellung des Wirkens deutschsprachiger Menschen in Lateinamerika in den letzten 500 Jahren. Auffällig sei, dass es jenseits der Handelsbeziehungen keine wirklichen Strategien oder Initiativen von Regierungsseite aus gegeben habe. Vielmehr handelte es sich immer um Individuen, die „eine unerwartete Fülle“ an „bemerkenswerten Leistungen“ hinterlassen haben.
Biografische Arbeiten zu Deutschen oder Europäer*innen in Lateinamerika sind zurzeit en vogue. Im April kam der Film „Eden“ in die Kinos, ein Überlebens-Thriller aus Hollywood, der eine Mordaffäre unter deutschen Aussteiger*innen Anfang der 1930er-Jahre auf der Galapagos-Insel Floreana schildert. Die Rolle der aus Köln stammenden Protagonistin Margret Wittmer (1904-2000), der „Kaiserin von Galapagos“, die Strausfelds Buch den Titel gab, ist darin mit Sydney Sweeney besetzt. Vom Triester Autor und Germanist Claudio Magris ist im Hanser Verlag „Kreuz des Südens. Drei wahre unwahrscheinliche Leben“ erschienen, ein Erzählband über „außergewöhnliche Menschen, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Patagonien auswanderten, um sich mit dem ‚Anderen‘ zu konfrontieren“, so der Hanser Verlag. Und der britisch-französische Jurist und Autor Philippe Sands hat gerade das Buch „Die Verschwundenen von Londres 38. Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien“ vorgelegt, in dem er nicht nur der Verhaftung des ehemaligen Diktators in London 1998 nachgeht, sondern auch den Verstrickungen des Nazis Walther Rauff mit dem Pinochet-Regime.
Das lange 20. Jahrhundert nimmt fast die Hälfte von Strausfelds Buch ein. Das 19. Jahrhundert kommt auf 70 Seiten, darin sind exemplarische Lebensläufe von Deutschen in Lateinamerika zu lesen. Das 16. bis 18. Jahrhundert handelt Strausfeld auf 35 Seiten mit zahlreichen Unterkapiteln ab. Die sind höchst interessant, wirken leider aber wie enzyklopädische Einträge, die Lust auf mehr machen.
Pionierinnen und Menschenfeinde
Eine chronologische Anordnung liegt auf der Hand. Möglich wären auch andere Kriterien gewesen: das Wirken von Frauen wie Maria Sibylla Merian, die schon vor Humboldt vor Ort naturwissenschaftliche Studien betrieb, der Dresdnerin Maria Reiche, die ihr Leben der Erforschung und Erhaltung der Nazca-Linien widmete, oder „revolutionärer Frauen“ wie Olga Benario, Tamara Bunke oder Monika Ertl (zu Ertl siehe ila 416 und ila 471).
Oder die Sortierung nach Negativbeispielen: das unselige Wirken von Altnazis wie Eichmann, Rauff, Barbie oder Mengele und von Antisemit*innen und Rassist*innen wie Bernhard Förster und Elisabeth Förster-Nietzsche in Nueva Germania in Paraguay; ausbeuterische Menschenfeinde wie der 1823 in Bremen geborene Johann Gildemeister, der in Peru mit Guano und Salpeter ein Vermögen anhäufte und später Zuckerplantagen wie die Casa Grande bei Trujillo besaß, die „wie ein Feudalreich“ verwaltet wurde, aber ein Arbeitslager war, „doppelt so groß wie Luxemburg“, wo „wie Sklaven gehaltene Indigene sowie chinesische Kulis als Leibeigene“ schufteten.
B-Promis und Gutgesinnte
Oder die zahlreichen „Protagonist*innen“, deren Lebenswege von lateinamerikanischen Autor*innen aufgegriffen wurden: der hierzulande fast unbekannte Reisemaler Moritz Rugendas (1802-1858) aus Augsburg, dessen Wirken und Leben in Romanen von Esteban Echeverría, Carlos Franz, Patricia Cerda oder César Aira auftauchen (siehe ila 484); oder die Nazi-Spionin Hilde Krüger, zweitklassige Schauspielerin und ehemalige Geliebte von Goebbels, die in Mexiko Innenminister Miguel Alemán den Kopf verdrehte und dafür sorgen sollte, dass Mexiko fleißig Öl an Nazideutschland lieferte. Paco Ignacio Taibo II verarbeitete ihre Geschichte im Krimi „Die Rückkehr der Schatten“ (2024).
Möglich wäre auch eine Anordnung nach (vermeintlich) positiven Beispielen: Pater Florian Paucke (1719-1779) aus Schlesien, der im „Jesuitenstaat“ in Paraguay die „Seelen der Indios retten“ wollte, Guaraní lernte und in seinen Schriften die (An)Klagen der Indigenen über die Weißen hinterließ. Die deutschen Geflüchteten, wie Eva Herz in São Paulo, Karl Buchholz in Bogotá oder Werner Guttentag in Cochabamba, die in lateinamerikanischen Metropolen Buchhandlungen eröffneten und eine wichtige Rolle im literarischen Leben ihrer neuen Heimat spielten. Interessant auch das Wirken der beiden Fotografen Guillermo Kahlo (Vater von Frieda Kahlo) und Hugo Brehme in Mexiko. Kahlo kam 1890 nach Mexiko und fotografierte im Auftrag der Regierung Kirchen und nationale Monumente. Nach der Revolution beschränkte er sich auf Porträtfotos. Brehme kam 1906 ins Land und profitierte von der Revolution. Von ihm stammt das kanonische Porträt von Emiliano Zapata. Später machte er Landschaftsaufnahmen und publizierte 1923 „México pintoresco“. Manuel Álvarez Bravo (1902-2002), Pionier der künstlerischen Fotografie in Mexiko, sagte über ihn: „Er lehrte mich, die Welt mit anderen Augen zu sehen.“
Im Kapitel über das 21. Jahrhundert, das die Frage aus dem Vorwort nach dem geschwundenen Interesse aufgreift, versucht Strausfeld Gegenstrategien zu entwickeln. Sie wünscht sich neue Ideen und innovative Projekte, mehr Engagement und Mut der deutschen Verlage. Es gelte, eine engagierte und lebhafte Literatur zu entdecken. Strausfeld spricht auch von einem neuen weiblichen Boom: „Autorinnen aus Ecuador, Paraguay, Bolivien oder aus mittelamerikanischen Staaten, die mit brillanten und harten Texten“ zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen und wiederentdeckten Gattungen wie der Crónica überraschen. Sie verweist auf Großausstellungen in der Vergangenheit, wie die zu Teotihuacán im Martin-Gropius-Bau in Berlin 2010, oder Gedenktage, die als Aufhänger für Projekte dienen könnten. Auch ein neuer intellektueller Austausch zwischen Autor*innen und Künstler*innen beider Kontinente könne für neuen Schwung sorgen.
Forderung an Verlage und Regierung
Strausfeld fordert vor allem ein größeres Interesse des Staates. Die Zivilgesellschaft blendet sie fast gänzlich aus. Wenn Kulturpolitik Teil der Außenpolitik sei, dann dürfe sie kein Schattendasein fristen. Das Auswärtige Amt gebe sich „mit wenigen Goethe-Instituten, ein paar deutschen Schulen und der Deutschen Welle zufrieden, die alle höchst bescheiden, um nicht zu sagen unzureichend ausgestattet sind“. Mehr Engagement des Staates wäre ein Novum. Schließlich waren es bislang meist Einzelpersonen, die sich mit Lateinamerika auseinandergesetzt haben, was Strausfeld in ihrem Buch eindrücklich aufzeigt.